Das Selbst und seine Körper

Aus dem Buch "Bhakti-yoga" von Srila Bhaktivedanta Swami Prabhupada


"Ebenso wie sich ein Schlafender mit seinem Traumkörper und dessen Handlungen identifiziert, identifiziert man sich mit seinem gegenwärtigen Körper, den man infolge seiner vergangenen religiösen und irreligiösen Handlungen erhalten hat, und ist außerstande, seine früheren oder zukünftigen Leben zu kennen" (Srimad-Bhagavatam 6.1.49).

Dies ist ein anschauliches Beispiel für die Unwissenheit, von der das Lebewesen in der materiellen Welt bedeckt ist. Wenn wir träumen, vergessen wir unsere eigene Identität - wir vergessen völlig, dass wir Herr Soundso sind, da und da wohnen und soundso viel Geld auf dem Konto haben. Nach dem Erwachen haben wir den Traum vergessen. Das können wir täglich erfahren. Ob wir träumen oder wachen, wir beobachten stets unsere eigenen Aktivitäten. Sowohl im Traum als auch im sogenannten Wachzustand sind wir die Beobachter. Wir, die beobachtenden spirituellen Seelen, bleiben die gleichen, aber die Umstände ändern sich, und wir vergessen, was geschehen ist.

Genausowenig können wir uns daran erinnern, was wir im letzten Leben waren, oder voraussagen, was uns im nächsten Leben bevorsteht. Es ist jedoch eine Tatsache, dass wir als spirituelle Seelen ewig leben. Wir haben in der Vergangenheit existiert, wir existieren in der Gegenwart, und wir werden auch in der Zukunft weiterexistieren. Sri Krischna erklärt diese Wahrheit in der Bhagavad-gita (2.12): "O Arjuna, du, Ich sowie alle anderen, die hier auf dem Schlachtfeld versammelt sind, haben bereits zuvor existiert und werden auch in der Zukunft weiterexistieren." Das erste, was man im spirituellen Leben verstehen muss, ist: "Ich bin ewig."

Als spirituelle Seelen werden wir weder geboren, noch müssen wir sterben (na jayate mriyate va kadacit). Mit der Zerstörung des materiellen Körpers ist unser Dasein nicht beendet (na hanyate hanyamane sarire). Die Zerstörung des Körpers ist jetzt schon in vollem Gange. Unser Kindheitskörper ist bereits zerstört; dieser Körper ist nicht mehr vorhanden. Unser jugendlicher Körper ist ebenfalls zerstört; auch er existiert nicht mehr. Genauso wird auch unser gegenwärtiger Körper vergehen, und wir werden einen anderen erhalten (tatha dehantara-praptih).

Wenn die Seele den Körper verlässt, verwest der grobstoffliche Körper. Der grobstoffliche Körper besteht aus Materie (Erde, Wasser , Feuer, Luft, Äther) und alles Materielle wird letztlich vergehen. Das ist die Natur der Materie. Die spirituelle Seele ist hingegen unvergänglich.

Wir durchwandern einen Körper nach dem anderen. Und warum gibt es verschiedene Arten von Körpern? Weil das Lebewesen, die spirituelle Seele, mit verschiedenen Erscheinungsweisen der materiellen Natur in Berührung kommt. Entsprechend den Erscheinungsweisen, die das Lebewesen beeinflussen, entwickelt es dann einen grobstofflichen Körper.

Aufgrund unserer vergangenen Handlungen haben wir unseren gegenwärtigen Körper erlangt. Karmana daiva-netrena jantur dehopapattaye: Gemäß seinem vergangenen karma, d. h. gemäß seinen materiellen Aktivitäten, bekommt man eine bestimmte Art von Körper. Die Natur wirkt automatisch entsprechend unserem karma. Wenn man sich zum Beispiel mit einer Krankheit ansteckt, wird die Natur ihren Lauf nehmen; die Krankheit wird ausbrechen, und man wird darunter zu leiden haben. Genauso müssen wir, wenn wir dem Einfluss der drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur ausgesetzt sind und karmische Handlungen ausführen, von einem Körper zum anderen wandern. Die Naturgesetze funktionieren auf vollkommene Weise.

Jetzt, da wir das zivilisierte menschliche Leben erreicht haben, sollten wir uns fragen: "Warum muss ich leiden?" Unser Problem ist, dass wir Leid für Genuss halten, weil wir dem Zauber mayas, der Illusion, verfallen sind. Maya bedeutet "das, was nicht ist". Wir glauben zu genießen, aber eigentlich leiden wir. Im materiellen Körper müssen wir leiden. Wir leiden aufgrund des Körpers. Eisige Kälte oder glühende Hitze empfinden wir nur aufgrund des Körpers. Unter bestimmten Umständen empfinden wir auch Freude. In der Bhagavad-gita (2.14) gibt uns Sri Krischna jedoch die Unterweisung:

"Materielles Glück und Leid werden durch den Körper verursacht. Sie kommen und gehen wie die Jahreszeiten. Lass dich also nicht verwirren, sondern versuche sie zu erdulden!"

Solange wir uns in der materiellen Welt befinden, werden sich Glück und Leid abwechseln. Wir sollten uns also von ihnen nicht verwirren lassen. Unsere wirkliche Aufgabe ist die Suche nach Selbsterkenntnis. Diese Suche müssen wir immer fortsetzen, und wir dürfen sie niemals aufgeben. Selbsterkenntnis ist das Ziel des menschlichen Lebens. Sogenanntes Glück und Leid wird es so lange geben, wie wir einen materiellen Körper haben. Wir müssen verstehen: "Ich bin nicht dieser Körper, ich bin spirituelle Seele. Wegen meiner vergangenen Handlungen habe ich diesen Körper erhalten." Das ist Wissen.

Ein vernünftiger Mensch sollte sich folgendes überlegen: "Ich bin spirituelle Seele, und mein Körper ist nur eine Hülle. Ist es demnach nicht möglich, diese Wanderung von Körper zu Körper zu beenden?" Menschliches Leben bedeutet, sich zu fragen, wie man sich von der Verunreinigung durch den materiellen Körper befreien kann.

Leider wird diese Frage von den Menschen der heutigen sogenannten Zivilisation nicht gestellt. Sie sind wie verrückt danach, die Sinne des Körpers zu befriedigen, und handeln dabei auf unverantwortliche Weise. Im Srimad-Bhagavatam (5.5.4) wird erklärt:

"Menschen, die nur um der Sinnenbefriedigung willen handeln, sind zweifellos wahnsinnig, und sie begehen alle möglichen abscheulichen Handlungen. Als Folge dessen müssen sie von einem Körper zum anderen wandern und dabei alle möglichen Leiden erdulden."

Es ist uns nicht bewusst, dass der Körper immer klesada ist: er bereitet uns stets Leid. Ab und zu empfinden wir etwas Freude; im Grunde jedoch ist der Körper eine Quelle des Leids. In diesem Zusammenhang gibt es eine treffende Analogie: Wenn die Gerichtsdiener früher einen Kriminellen bestrafen wollten, banden sie ihm die Hände zusammen, brachten ihn in die Mitte eines Flusses und tauchten ihn unter Wasser. Wenn er beinahe ertrunken war, zogen sie ihn an den Haaren aus dem Wasser und ließen ihn etwas Luft holen. Sodann wurde er wieder untergetaucht. Das war eine Methode der Bestrafung.

Jede kurze Freude, die wir in der materiellen Welt erfahren, gleicht der Freude jenes Kriminellen, der für kurze Zeit aus dem Wasser gezogen wird. Schweres Leid mit einigen Augenblicken der Erleichterung - so sieht das Leben in der materiellen Welt aus.

Deshalb suchte Sanatana Gosvami, ein wohlhabender Minister der mohammedanischen Regierung in Indien, dereinst Sri Caitanya Mahaprabhu auf und fragte: ke ami, kene amaya jare tapa-traya. "Wer bin ich? Warum muss ich die dreifachen Leiden erdulden?" Solch eine Frage zeugt von Intelligenz. Ständig begegnen wir irgendwelchen Leiden, die von Körper und Geist verursacht werden, die andere Lebewesen uns zufügen oder die durch Natureinflüsse entstehen. Wir wollen diese Leiden nicht, aber sie werden uns aufgezwungen. Wenn man also einen spirituellen Meister annimmt, sollte die erste Frage lauten: "Warum leide ich?"

Wir sind jedoch so stumpfsinnig wie die Tiere geworden, so dass wir diese Frage niemals stellen. Die Tiere leiden - das weiß jeder -, aber sie können nicht fragen, warum. Wenn ein Tier zum Schlachthaus geführt wird, kann es nicht fragen: "Warum werde ich mit Gewalt zum Schlachthaus gebracht?" Wenn man aber versucht, einen Menschen zu töten, wird er laut protestieren: "Dieser Mann will mich umbringen! Warum soll ich getötet werden?" Ein wichtiger Unterschied zwischen menschlichem und tierischem Leben besteht also darin, dass nur der Mensch fragen kann: "Warum leide ich?"

Ob nun Präsident Nixon oder der Mann auf der Straße - jeder leidet. Daran besteht kein Zweifel. Man leidet aufgrund seines Körpers, und man handelt so, dass man einen weiteren materiellen Körper annehmen muß. Wir leiden, weil wir uns im letzten Leben der Sinnenbefriedigung hingegeben und einen unserem karma entsprechenden Körper erhalten haben. Wenn wir auch in diesem Leben nur unsere Sinne befriedigen wollen und nicht versuchen, uns zu erheben, werden wir wiedergeboren werden und leiden müssen. Entsprechend unserem Bewusstsein zum Zeitpunkt des Todes stellt uns die Natur einen anderen Körper zur Verfügung. Und sobald man diesen Körper hat, beginnt das Leid von neuem. Sogar im Mutterleib wird man leiden müssen. Viele Monate lang in einem solch engen Beutel leben zu müssen, Hände und Beine aneinander gepresst, unfähig, sich zu bewegen - das ist Leid. Und wenn man auf die Welt kommt, erwartet einen nur noch mehr Leid. Heutzutage besteht darüber hinaus die Gefahr, schon im Mutterleib getötet zu werden. Wir sollten daher intelligent genug sein, um zu fragen: "Warum leide ich? Wie kann ich dieses Leid beenden?" Solange wir nicht fragen: "Warum leide ich?", hat unser menschliches Leben noch nicht begonnen, und wir sind noch Tiere.

Das Fragen nach der eigentlichen Ursache unseres Leidens wird brahma-jijnasa, das Fragen nach der Absoluten Wahrheit, genannt. Am Anfang des Vedanta-sutra heißt es: athato brahma-jijnasa. "Wenn man die menschliche Lebensform erlangt hat, sollte man nach Brahman, der Absoluten Wahrheit, fragen." Wir sollten also von der menschlichen Lebensform Gebrauch machen. Wir sollten nicht wie die Tiere leben, sondern Fragen über die Absolute Wahrheit stellen und herausfinden, wie wir unser leidvolles materielles Leben beenden können.

Unser harter Existenzkampf zeigt, dass wir bereits versuchen, unseren Leiden Abhilfe zu schaffen. Warum bemühen wir uns, Geld zu bekommen? Weil wir denken: "Wenn ich Geld habe, wird sich mein Leid lindern." So geht der Existenzkampf weiter, und jeder versucht, durch Sinnenbefriedigung glücklich zu werden. Sinnenbefriedigung ist jedoch kein wahres Glück. Das wahre Glück ist spirituelles Glück, das man in Krischnas Dienst erfährt. Materielles Glück ist nur ein verzerrtes Abbild.

Materielles Glück ist wie eine Luftspiegelung in der Wüste, die uns Wasser vorgaukelt. In der Wüste gibt es eigentlich kein Wasser; wenn aber ein durstiges Tier eine solche Luftspiegelung in der Wüste sieht, läuft es ihr hinterher...und stirbt. Wir wissen, dass es in der Wüste kein Wasser gibt und dass dieses "Wasser" lediglich eine Luftspiegelung ist, doch die Tiere wissen dies nicht. Mit anderen Worten, menschliches Leben bedeutet, dass man aufhört, durch Sinnenbefriedigung nach einem Glück zu jagen, das einer Fata Morgana in der Wüste gleicht, und sich auf die Suche nach spirituellem Glück macht.

Einfach durch das Chanten des Hare-Krischna-maha-mantra - Hare Krischna, Hare Krischna, Krischna Krischna, Hare Hare / Hare Rama, Hare Rama, Rama Rama, Hare Hare - können wir dieses höhere Glück erfahren. Hare Krischna zu chanten ist überhaupt nicht schwierig, und doch kann es uns von all unseren Leiden in der materiellen Welt befreien.

Unser Leid wird durch zahllose Unreinheiten im Herzen verursacht. Wir gleichen einem Kriminellen, dessen Herz voll unreiner Wünsche ist. Er denkt: "Wenn ich dieses und jenes bekommen könnte, wäre ich glücklich." Selbst wenn er sein Leben dabei aufs Spiel setzen muss, begeht er ein Verbrechen. Ein Dieb weiß, dass er bestraft wird, wenn ihn die Polizei fasst; doch das hält ihn nicht vom Stehlen ab. Warum? Nunam pramattah: Er ist wie Verrückt nach Sinnenbefriedigung. Das ist der ganze Grund.

Wir müssen also unser Herz von den schmutzigen Begierden reinigen, die uns dazu zwingen, um der Sinnenbefriedigung willen zu handeln und zu leiden. Im gegenwärtigen Zeitalter ist die Reinigung überhaupt kein Problem: Man chantet einfach Hare Krischna. Mehr ist nicht nötig. Das ist das Geschenk Sri Caitanya Mahaprabhus. Ceto-darpana marjanam bhava-maha-davagni-nirvapanam. Wenn wir den Hare-Krischna-mantra chanten, werden wir befreit von dem Leid, das die unentwegte Wanderung von Körper zu Körper über uns bringt. Chanten ist etwas sehr Einfaches. Kaste, Religion, Nationalität, Hautfarbe und soziale Stellung spielen keine Rolle. Durch Gottes Barmherzigkeit hat jeder eine Zunge und zwei Ohren. Jeder kann also chanten: Hare Krischna, Hare Krischna, Krischna Krischna, Hare Hare / Hare Rama, Hare Rama, Rama Rama, Hare Hare. Chantet einfach Hare Krischna und seid glücklich!

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