Einführung in die Vedische Philosophie

Ursprung

Die Spuren der ältesten Hochkulturen der Welt führen nach Indien. Dort sind auch heute noch viele historische Stätten zu finden, die darauf hinweisen, welch große Kultur einst in diesem Erdteil geblüht hat. Die wichtigsten Zeugnisse jener Epoche sind die Sanskrit-Schriften. Sanskrit ist die älteste Schriftsprache der Welt und hat auf viele später entwickelte Sprachen, wie Lateinisch, Griechisch, Hebräisch und Chinesisch, eingewirkt. Die Urtexte des Sanskrit werden als Veden bezeichnet (vom Sanskritwort veda, "Wissen", "göttliche Offenbarung"). Diese Schriften sind sehr umfangreich, und sie enthalten erstaunliches Wissen über Geschichte, Astronomie, Medizin, Architektur, Esoterik, Psychologie und alle anderen Aspekte des menschlichen Lebens. Die wichtigsten vedischen Schriften jedoch sind diejenigen, die der Philosophie und Religion gewidmet sind. Das Kronjuwel unter ihnen ist die Bhagavad-gita ("Der Gesang Gottes"), die oft auch als die "Bibel Indiens" bezeichnet wird. Die vedische Religion war ursprünglich monotheistisch und lehrte die Menschen die Verehrung des einen höchsten Gottes (der im Sanskrit Krischna genannt wird). Es war dieser gottesbewusste Lebensstil, dem die vedische Kultur ihre langwährende Blüte verdankte.

Das Kali-yuga

Unter dem Einfluss der Zeit unterliegt alles in der Welt einem zyklischen Wandel von Aufstieg und Niedergang. So begann vor fünftausend Jahren das Kali-yuga, das "eiserne Zeitalter von Streit und Heuchelei", in dessen Verlauf die vedische Kultur allmählich zerfiel. Die Könige, Priester und Lehrer und damit auch die anderen Bevölkerungsschichten verloren zusehens ihre Reinheit und Gottergebenheit, und somit auch die Grundlage ihrer spirituellen Gesellschaft. Dennoch blieb Indien auch im Kali-yuga für lange Zeit ein sagenhaft reiches Land, weshalb es im Verlauf der Geschichte immer wieder Mächte gab, die versuchten, die Schätze Indiens auszubeuten. Alle jene, die in den indischen Subkontinent vordrangen - von Alexander dem Großen 327 v. Chr. bis hin zu den Mohammedanern und Engländern, waren beim Anblick dieses Landes mit seinen imposanten Tempeln und Palästen höchst erstaunt. Aber was diese Eroberer sahen (und in vielen Fällen auch zerstörten), waren nur die Reste eine früher noch viel höher entwickelten Kultur.

Indiens wahrer Schatz

Die großen Weisen und Heiligen der vedischen Tradition, die um die Zukunft der Menschheit besorgt waren, sahen voraus, dass im Kali-yuga Materialismus und oberflächliche Religion überhandnehmen werden. Deshalb beschlossen sie, das bis anhin mündlich überlieferte vedische Wissen schriftlich festzuhalten, um zu verhindern, dass es durch den Einfluss des Kali-yuga verlorengeht. So entstanden vor fünftausend Jahren die vedischen Schriften; das in ihnen enthaltene Wissen jedoch ist durch göttliche Offenbarung bereits seit unvordenklichen Zeiten bekannt.

Die Schülernachfolge

Neben den Schriften gab es immer auch Lehrer (gurus), die durch ihr persönliches Beispiel das vedische Wissen verkörperten und weiterreichten - über die Generationen und Jahrhunderte, von Meister zu Schüler, bis in unsere Gegenwart. Diese ununterbrochene Schülernachfolge, die direkt auf Krischna zurückgeht, erhielt die vedische Tradition am Leben, obwohl sich die Menschen im Kali-yuga immer mehr von ihr abwandten. Deshalb sehnten diejenigen, die den Sinn und Zweck der Veden kannten, das Erscheinen jener Gottesinkarnation herbei, welche die reine Form der vedischen Kultur und Religion wieder etablieren sollte.

Sri Caitanya Mahaprabhu

Im Jahre 1486 erschien Krischna in Bengalen als Sri Caitanya. Sein Erscheinen als göttliche Inkarnation (avatara) war bereits in den Veden vorausgesagt worden. Er begründete die Bewegung für Krischna-Bewusstsein in Indien und offenbarte den Vorgang der Gotteserkenntnis im Kali-yuga: das "Chanten" (Singen und Beten) der heiligen Namen Gottes. Mit anderen Worten, derselbe Krischna, der vor fünftausend Jahren die Bhagavad-gita sprach, erschien vor fünfhundert Jahren nochmals, um zu zeigen, wie man die Bhagavad-gita lebt, denn Gott gibt immer beides: vollkommene Lehre und vollkommenes Beispiel. Sri Caitanya setzte den Samen zu einer neuen spirituellen Epoche innerhalb des Kali-yugas. Er lehrte, dass echtes Gottesbewusstsein nicht von Kasten- oder Konfessionszugehörigkeit abhängig ist. Deshalb wandte er sich gegen jede soziale, religiöse und rassistische Voreingenommenheit und führte das gemeinsame Singen der Namen Gottes ein, um es allen Menschen zu ermöglichen, Krischna-bewusst zu werden. Er prophezeite, dass der heilige Name Krischnas eines Tages auf der ganzen Welt gesungen werde. In der Erfüllung dieser Prophezeiung sahen die Nachfolger Sri Caitanyas ihre Hauptaufgabe. Sie reisten durch ganz Indien, schrieben Bücher und begannen seit dem 19. Jahrhundert auch, das vedische Wissen über die englische Sprache der ganzen Welt zugänglich zu machen. Den entscheidenden Schritt vollbrachte zehn Generationen nach Sri Caitanya der große Gelehrte und Gottgeweihte A.C. Bhaktivedanta Swami Prabhupada (1896-1977), der den Namen Krischnas und die Botschaft der Veden weltweit bekannt machte.

Die Philosophie des Krischna-Bewusstseins

Die Veden beschreiben Gott als den Ursprung von allem - aller Universen und aller Lebewesen. Alles steht in Beziehung zu Gott. Diese ursprüngliche Beziehung zu Gott wiederzuerkennen und dementsprechend zu handeln wird als Krischna-Bewusstsein bezeichnet.
Die vedische Philosophie befasst sich mit den zentralen Fragen des Lebens: Wer bin ich? Was geschieht mit mir nach dem Tode? Was ist der Sinn des Lebens? Wenn die Menschen die Wichtigkeit dieser Fragen erkennen, wird sich ihr Verhalten der Umwelt, den Mitmenschen, ja dem gesamten Planeten gegenüber positiv verändern. Hierin zeigt sich die Aktualität der vedischen Schriften.

Wer bin ich?

Bin ich mein Körper, meine Gedanken, meine Gefühle, oder bin ich mehr? Die Bhagavad-gita erklärt, dass das wahre Selbst eines jeden Lebewesens die spirituelle Seele ist. Spirituell ist das Gegenteil von materiell und bezieht sich auf alles, was ewig ist und nicht der materiellen Vergänglichkeit unterliegt. "Jedes Lebewesen ist eine ewige Seele, die nie geboren wird und nie stirbt." (Bhagavad-gita 2.20)

Reinkarnation

Als ewige Seelen haben wir bereits vor der Geburt unseres gegenwärtigen Körpers gelebt und werden auch nach dem Tod des Körpers weiterleben. Tod bedeutet, dass die Seele den Körper verlässt und in einen neuen Körper eingeht. Die Reinkarnation der Seele lässt sich auch experimentell nachweisen: Die Psychologie kennt heute die Methode der Reinkarnationstherapie, in der Menschen über Hypnose in frühere Leben zurückgeführt werden und erstaunliche, nachprüfbare Details beschreiben, die sie im jetzigen Leben unmöglich kennen können - ja manchmal sprechen sie sogar eine Sprache, die sie sonst nicht beherrschen. Dies widerlegt den Einwand, solche Aussagen über frühere Leben seien auf Einbildung oder äussere Beeinflussung zurückzuführen.

Karma - das Gesetz von Aktion und Reaktion

Der Mensch besitzt - im Gegensatz zum Tier - einen freien Willen und ist deshalb für alles, was er tut, verantwortlich. "So wie du säst, so wirst du ernten." Unsere Wünsche und Handlungen bestimmen unsere Zukunft im jetzigen wie im nächsten Leben. Nichts ist Zufall.

Überwindung des Karma

Die Seele wandert im Kreislauf von Geburt und Tod so lange von Körper zu Körper, bis sie durch einen Vorgang der Läuterung aus diesem Dasein erlöst wird. Das Wissen, wie man aus der materiellen Welt erlöst werden kann, und die Kraft, diesem Pfad der Gotteserkenntnis zu folgen, erhält der Mensch durch die Gnade Gottes, der entweder persönlich auf der Welt erscheint oder seine Inkarnationen, Söhne und Propheten schickt, um den Menschen das Tor zurück in die spirituelle Welt, das Reich Gottes, zu öffnen.

Meditation

Die Bhagavad-gita erklärt, dass der Bewusstseinszustand im Moment des Todes entscheidet, wohin die Seele im nächsten Leben geht. Deshalb sollte es das Ziel des Menschen sein, im Moment des Todes an Gott zu denken, um so befähigt zu werden, zu Gott zurückzukehren. Um dieses höchste Ziel zu erreichen, muss man schon während des Lebens lernen, das Bewusstsein auf Gott zu richten. Dies nennt man Meditation (Ausrichtung des Bewusstseins auf Gott).

Yoga

Der oft missverstandene Begriff yoga bedeutet wörtlich "Verbindung mit Gott" und bezieht sich auf die verschiedenen Arten von göttlich offenbarten Wegen der Erlösung. Es gibt im Lateinischen ein bekanntes Wort mit derselben Bedeutung: religio (von religare, sich wieder verbinden). Religion und yoga bedeuten ursprünglich also dasselbe.

Bhakti-yoga

Auf der höchsten Stufe von yoga (Religion) erkennt die Seele, dass ihre ewige, natürliche Erfüllung darin besteht, Gott mit reiner Liebe und Hingabe (bhakti) zu dienen. Bhakti ist das Ziel von allen yoga-Vorgängen. Deshalb erklärt die Bhagavad-gita, das bhakti-yoga der beste, da direkteste Weg zu Selbstverwirklichung und Gotteserkenntnis ist. Bhakti-yoga ist ein Vorgang der aktiven Meditation, die alle Lebensbereiche mit Gott verbindet: die Gedanken, die Worte und die Tätigkeiten des Alltags. Der grundlegende Vorgang des bhakti-yoga ist die Meditation über die Namen Gottes.

"Geheiligt werde Dein Name!"

Das Singen und Lobpreisen der Namen Gottes wird von allen Religionen empfohlen, denn dies ist der wirkungsvollste Vorgang, um inneren und äußeren Frieden zu finden und das Bewusstsein auf Gott zu richten. Gott besitzt eine unbegrenzte Anzahl von Namen. Krischna und Rama sind Sanskritnamen für Gott, und in anderen Kulturen wird derselbe Gott auch Jahwe, Allah, Manitu usw. genannt.

Gebete und Mantras

Die vedischen Schriften überliefern die Namen Gottes in Form von heiligen mantras ("Gebete", "Lobpreisungen"). Mantras sind spirituelle Klangschwingungen und haben die Kraft, das Bewusstsein der Menschen von materialistischen Neigungen und Einflüssen zu läutern. Dadurch wird es ihnen möglich, ihre natürliche Stellung als Diener Gottes zu erkennen und dementsprechend zu handeln.

Der Hare-Krischna-mantra

Unter der Vielzahl von vedischen mantras wird der Hare-Krischna-mantra als der maha-mantra (der "herausragende, wichtige mantra) bezeichnet, da er sich aus den persönlichen Namen Gottes zusammensetzt: Hare Krischna Hare Krischna Krischna Krischna Hare Hare Hare Rama Hare Rama Rama Rama Hare Hare. Krischna bedeutet "der Allanziehende" und Rama "die Quelle aller Freude". Hare ist eine Anrufung der ewigen, göttlichen Energie. Der Hare-Krischna-mantra ist ein Gebet an Gott (Krischna) mit der Bedeutung: "O Höchster Herr, bitte beschäftige mich in Deinem hingebungsvollen Dienst!" Man kann den Hare-Krischna-mantra gemeinsam singen oder für sich allein in einer persönlichen Meditation "chanten" (beten oder sprechen). Mantra-Meditation ist einfach und erhaben und ist im gegenwärtigen Zeitalter der empfohlene Vorgang, um das Bewusstsein auf höhere Dimensionen zu richten und Liebe zu Gott zu erlangen.

Krischna-Bewusstsein in der Praxis

Die vedischen Schriften sind an keine bestimmte Religion gebunden, sondern weisen den Menschen einen universalen Weg zu Gott. Auf diesem Weg gibt es viele Stufen des Fortschritts: angefangen beim Vermindern und Überwinden von schlechten Gewohnheiten, über den Schritt zur vegetarischen Ernährung und das Studium der vedischen Schriften bis hin zu Mantra-Meditation und Gottesbewusstsein (bhakti-yoga). Die Krischna- Geweihten vermitteln den Menschen umfassendes Wissen über bhakti-yoga , und jeder kann auf der Stufe beginnen, die seiner individuellen Situation entspricht.

"Auf diesem Pfad gibt es weder Verlust noch Minderung, und schon ein wenig Fortschritt kann einen vor der größten Gefahr bewahren." (Bhagavad-gita 2.40)

Praktische Schritte im Alltag

Krischna-Bewusstsein bedeutet eine innere Einstellung der Liebe und Hingabe zu Gott, die in der Konsequenz auch die äußeren Handlungen des Alltags harmonisiert. Barmherzigkeit, Sinnesbeherrschung, Wahrhaftigkeit und Reinheit sind die vier Säulen des spirituellen Lebens. Man kann diese vier Tugenden fördern, indem man von jenen Gewohnheiten Abstand nimmt, die ihnen entgegengesetzt sind. Das Töten von Tieren ist mit dem Prinzip der Barmherzigkeit nicht vereinbar, und deshalb empfehlen die Veden dem Menschen die vegetarische Lebensweise. Wer bhakti-yoga ausführt, nimmt nur Speisen zu sich, die Gott geweiht sind. Solche geweihten Speisen werden im Sanskrit prasadam ("die Barmherzigkeit Gottes") genannt. Die Bhagavad-gita erklärt, dass man Gott keine mit Gewalt verbundenen oder unreinen Nahrungsmittel weihen kann, und deshalb vermeiden die Geweihten Krischnas Fleisch, Fisch und Eier. (Ausführliche Informationen zu diesem Thema finden Sie in der Broschüre "Vegetarisch leben"). Rauschmittel und Glücksspiele machen den Menschen abhängig und süchtig und fördern unnötige Leidenschaften, die das innere Gleichgewicht zerstören. Sie rauben dem Menschen die Selbstbeherrschung (die Kraft, nein zu sagen) und die Wahrhaftigkeit (die Kraft, zur Wahrheit zu stehen). Reinheit bezieht sich auf körperliche Sauberkeit und auch auf die Reinheit der Gedanken. Dazu gehört as Vermeiden von ausserehelichen Geschlechtsbeziehungen, denn durch ein unbeherrschtes Geschlechtsleben wird es praktisch unmöglich, sich mit reinen Gedanken auf Gott zu konzentrieren. Hinzu kommt, dass solche Geschlechtsbeziehungen viele soziale Probleme verursachen und psychisch zu Frustration und Eifersucht führen und das Bewusstsein der ewigen Seele an den vergänglichen Körper binden. Es ist jedoch offensichtlich, dass nicht jeder in der Lage ist, diesen Richtlinien zu folgen. Sie beschreiben das anzustrebende Ziel, und wenn man das Ziel vor Augen hat, erkennt man auch, was im eigenen Leben die nächsten Schritte sind, um diesem Ideal näherzukommen.

Ausschnitte aus der Broschüre Krischna-Bewusstsein von der Schweizerischen Gesellschaft für Krischna-Bewusstsein

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