Essay von Srila Bhaktivinoda Thakura


Es war Jesus Christus, der sagte: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzem Verstand, mit ganzer Seele und all deiner Kraft, und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!"

Diese edle Aussage gründet in absoluter Wahrheit, und dennoch deuten verschiedene Interpreten sie verschieden. Die Worte großer Persönlichkeiten klingen eindrucksvoll, sind zugleich aber auch irgendwie rätselhaft. Wer sie versteht, kostet die Bedeutung tief im Herzen, andernfalls können sie gefährlich falschinterpretiert werden. Warum sind solche Worte rätselhaft? Der Grund dafür ist, dass jene, die in ihrer Beziehung zu Gott fortgeschritten sind, Offenbarungen von diesem erhalten, die dem gewöhnlichen Menschen unzugänglich sind. Es ist eine Sache der Entwicklung der Seele. Die Menschenseele kann sich höher und höher erheben und Dinge verwirklichen, von denen sie gegenwärtig noch keine Vorstellung hat.

Dessen eingedenk können wir Jesus von Nazareths Aussage etwas näher betrachten. Menschen, die sich ein wenig erhoben haben, lernen aus ihr, dass sie Gott mit ganzem Herzen lieben sollen (mit der reinen Unschuld der Kinder, im Gegensatz zum Hass), mit ihren Gedanken (ihrem Verstand, der sie das Gute vom Schlechten unterscheiden lässt), ihrer Seele (der dem Menschen innewohnenden Natur, den Höchsten zu verehren und die eigene Unsterblichkeit zu fühlen), und aus ganzer Kraft (das heißt, mit ihrem Willen und auch durch ihrer Hände Arbeit). Denen, die Gottes Gnade erfahren, erschließen sich jedoch noch weitere und herrlichere Bedeutungen dieser Botschaft des erleuchteten Jesus. Sie verstehen, dass er sie lehrt, Gott zu lieben - nicht nur einfach von Ihm zu wissen, Ihn sich vorzustellen oder über Ihn nachzudenken. Und sie verstehen, dass sie letztlich nicht Intellekt oder Körper sind, sondern reine Seele selbst.

Die Essenz der Seele ist Weisheit, und ihre Berufung ist absolute Liebe. Die Seele im höchsten, absoluten Zustand besitzt eine Beziehung zum absoluten Gott - eine Beziehung reiner Liebe. Liebe ist darum die einzige Religion der Seele und der gesamten Menschheit.

Ein Mensch, der überlegt, was ihm im Leben am Herzen liegt, wird vielleicht schlussfolgern: "Mein Herz zieht es zur warmen Sonne, zum Tanzen und zu einem guten Essen!" Ihm gibt Jesus den tiefsinnigen Rat: "Versuch aus ganzem Herzen Gott zu lieben! Jetzt strebt dein Herz zu anderen Dingen als zu Gott, aber genauso, wie du ein störrisches Pferd abrichtest, musst du deine Gefühle auf Gott lenken." Das ist das erste von vier Prinzipien der Gottesverehrung. Indiens heilige Schriften, die Veden, nennen diese Art der Gotteszuwendung santa-rasa.

Der nächste Punkt ist dann: "Lieber Herr, meinen Geist, meinen Intellekt, zieht es weg von Gott: er sucht andere Hilfsmittel, wie Positives Denken. Was kann ich tun?" Jesus antwortet: "Bemühe dich, Gott mit deinem Geist zu lieben! Wann immer du etwas wahrnimmst, aufnimmst, annimmst, schlussfolgerst und dich erinnerst, sei kein trockener Denker: liebe! Liebe allein kann den trockenen Intellekt erweichen. Übe den Verstand mit spiritueller Liebe, Schönheit und Harmonie an den guten und heiligen Dingen." Dies ist die zweite Phase der Entwicklung von Hingabe, bei den Vaisnavas, den Verehrern Visnus und Nachfolgern der Veden, bekannt als dasya-rasa.

Weiter fragt der Wissbegierige dann, ob es mit der Entwicklung von Zuneigung und Verstand schon getan sei. Ihm wird erwidert: "Liebe Gott auch mit deiner Seele, tritt in spirituellen Austausch mit dem Höchsten und empfange in Stunden tiefster Verehrung heilige Offenbarungen." Das nennen die Vaisnavas sakhya-rasa: sich dem Höchsten in vertrautem und furchtlosen Dienst nähern.

Der Unerfahrene könnte vielleicht zweifeln, ob durch solch eine Erfahrung der Göttlichkeit nicht seine Individualität, seine Fähigkeit, zu wünschen und zu handeln, verloren ginge. Aber der Erlöser beruhigt ihn mit den Worten: "Liebe Gott mit aller Kraft und allem Willen: du irrst, wenn du glaubst, du verlörest deine aktive Existenz - du wirst sie umso mehr bekommen! Arbeite für Gott, und arbeite auf Gott hin, aus freien Stücken und ohne selbstische Motive, aber in reiner Liebe: darin wirst du aufblühen!"

Hier haben wir eine generelle Beschreibung von bhakti, dem Weg der Hingabe. Und Jesus fährt fort und erklärt uns: "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!" Daraus kann man schlussfolgern, dass der vierten Stufe der Entwicklung von Liebe das Gefühl zugrunde liegt, in allen Menschen seine Geschwister und in Gott den gemeinsamen Vater zu erkennen, vatsalya-rasa in seiner ersten Form.

Bhakti, Liebe und Hingabe, entwickelt sich also von der Zuwendung des Herzens über den Verstand, die Seele und schließlich den Willen. Diese vier Erfahrungen widerstreiten nicht miteinander, sondern harmonisieren sich glanzvoll in einem wunderbaren Wesen, das wir im Vaisnavatum den "spirituellen Menschen" oder ekanta nennen. Und doch gibt es noch eine erhabenere Wahrheit jenseits davon, die nur den wenigen offenbart wird, die dafür gewappnet sind. Ich spreche von der Erhebung der Seele zur ewigen weiblichen Identität, dem einzigartigen und unerreichten Zustand, der es der Seele erlaubt, die Süße der ehelichen Liebe mit Gott zu kosten. Diese fünfte und höchste Stufe der Vaisnava- Entwicklung trägt den Namen madhurya-rasa, und ihm ist der leuchtendste Teil der Vaisnava-Schriften gewidmet. Diese höchste Vollkommenheit menschlichen Lebens ist äußerst geheimnisvoll und nicht allen und jedem zugänglich; man geht nicht fehl, zu sagen, nur "Gottes Auserwählten". Sie steht so weit jenseits gewohnten Denkens, dass Rationalisten und selbst Durchschnitts-Theisten sich dergleichen nicht einmal vorstellen können - was sie oft veranlasst, sich darüber lächerlich zu machen.

"Oh Gott! Erwecke diese großartigen Wahrheiten in allen Herzen, auf dass Deine "Auserwählten" nicht eine kleine Schar bleiben mögen angesichts der Menge von Zweiflern und Fanatikern - lass die gesamte Menschheit Deine "Auserwählten" werden!" (Aus einem Essay von Srila Bhaktivinoda Thakura)

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